Die Story ist ziemlicher Quatsch: Ein abenteuerlustiger Venezianer entdeckt in Asien die Nudel, packt sie ein, revolutioniert damit die italienische Küche und prägt eine ganze Esskultur. Und obwohl längst widerlegt – lebt der Mythos weiter und hält sich erstaunlich hartnäckig.
Stellt sich also die Frage: Wer hat’s erfunden? Was hat Marco Polo damit zu tun? Und vor allem, wie reist unser Essen?
In Teil I dreht sich alles um Marco Polo und den Ursprung der Nudel. In Teil II klären wir dann, wie eine Nudel reisen kann – und wohin.
Der Marco-Polo-Mythos


Der Mann hinter der Legende
Im Frühsommer des Jahres 1271 steht der 17-jährige Marco Polo an Deck eines Schiffes und sieht seine Heimatstadt Venedig am Horizont immer kleiner werden. Er weiß, dass es viele Jahre dauern wird, bevor er La Serenissima wiedersehen wird.
Geboren wurde er 1254 in eine wohlhabende venezianische Kaufmannsfamilie. Die Polos waren erfahrene Händler, die schon vor seiner Geburt bis an die „Ränder“ der bekannten Welt gereist waren.
Zusammen mit seinem Vater Niccolò und seinem Onkel Maffeo, startet jetzt auch er eine Reise nach China. Die beiden älteren Polos waren zwei Jahre zuvor von ihrer ersten Handelsreise in den Osten Asiens zurückgekehrt. Ihre Route hatte sie durch das Mongolenreich bis nach China geführt, an den Hof des Kublai Khan – des mächtigsten Herrschers der damaligen Welt.
Nun wollen sie erneut entlang der Seidenstraße dorthin. Dieses Mal aber mit Marco im Schlepptau.
Und so segeln sie bis zur Hafen- und Handelsstadt Akkon im heutigen Israel und beginnen dort ihre lange Reise über Land.
Eine Reise voller Gefahren: Sie durchreisen die Gebiete des heutigen Irans, Afghanistans und Usbekistans entlang der Seidenstraße, bis sie die Oasenstadt Kaschgar erreichen. Sie überqueren das schroffe Pamirgebirge mit Gipfeln bis zu 7.000 Metern Höhe, Schnee und eisigen Winden. Sie durchqueren die gefährlichen Wüsten Taklamakan und Gobi, mit Sand, Hitze und Wasserknappheit. Und sie trotzen Stammesfehden, Räuberbanden und Krankheit.
Doch schließlich erreichen sie Shangdu, auch bekannt als Xanadu – die prächtige Sommerresidenz von Kublai Khan, dem Enkel des Dschingis Khan.
Marco Polo wird diesen ersten Anblick der Stadt später als einen atemberaubenden beschreiben: großzügige Paläste, weite Parkanlagen und prächtige Märkte, die sowohl den Reichtum des Khans als auch den kulturellen Austausch zwischen den Völkern der Seidenstraße widerspiegelten.
Marco bleibt 17 Jahre lang in China – eine unglaubliche Zeit für einen Europäer im 13. Jahrhundert. Er wird zum Gesandten des Khans und reist für ihn durch das riesige Reich. Was für eine Erfahrung … was er dort über die Menschen und ihre Kultur erfahren durfte – und natürlich über ihr Essen.
Aber nach fast zwei Jahrzehnten wollen die Polos nach Hause. 1291 verlassen die drei China – diesmal über den Seeweg. Über Sumatra, das damalige Ceylon und Indien reisen sie in das mongolisch-persische Reich und von dort aus nach Venedig.
1295 sind sie endlich zu Hause – und finden ihre Stadt im Krieg mit Genua. Marco beteiligt sich als Kommandant einer Galeere und wird gefangengenommen.
In der Gefangenschaft lernt er Rustichello da Pisa, einen damals bekannten Autor von Ritterromanen, kennen und beginnt, mit ihm seine Reiseerlebnisse aufzuzeichnen.
„Le divisament dou monde“ (Die Aufteilung der Welt) – wie es im Original hieß – ist um 1299 vermutlich in italo-französischer Sprache entstanden und wird rasch ein Erfolg.
Bis zu seinem Tod 1324 lebt er in Venedig – seine Erzählungen werden vielfach für unglaubwürdig gehalten. Aber bis zuletzt hält er daran fest und soll gesagt haben, er habe nicht die Hälfte dessen erzählt, was er gesehen habe, weil keiner ihm geglaubt hätte.
Wie der Mythos entstand
Ob alles genau so passiert ist, wie er es erzählt hat? Wer weiß. Aber sein Buch hat die Vorstellung vom „Fernen Osten“ in Europa für Jahrhunderte geprägt – und eine der weltweit hartnäckigsten Küchenlegenden in Gang gesetzt.
Auch wenn man Marco Polo damals nicht glauben wollte, und es bis heute nicht geklärt ist, ob seine Geschichten wahr, erfunden, oder aus Erzählungen anderer stammen, eines hat er nie behauptet: Er habe die Nudel in China entdeckt und nach Europa gebracht.
In seinem Bericht, der später als „Il Milione“ bekannt wurde – und den sogar Kolumbus als Inspiration für seine Reiseplanung nutzte – zeigt er die große Bandbreite chinesischer Speisen, darunter auch Gerichte aus Mehl und Wasser – also Nudeln.
Randnotizen von Kolumbus in seinem Exemplar („Le Livre des Merveilles“, latin edition, Sevilla, Bibliotheca Colombina)
Aber der entscheidende Punkt: Er beschreibt sie nicht als etwas völlig Neues oder Fremdes, sondern vergleicht sie mit Essen, das er aus Italien kannte. Wenn er die Nudel also in China vollkommen neu entdeckt hätte, hätte er sie wohl mit größerem Staunen beschrieben.
Marco Polo nennt zwar viele beeindruckende Dinge, die er in China sah, darunter Papiergeld, prächtige Städte und fortschrittliche Landwirtschaft, aber von Nudeln? Kein Wort.
Ein interessanter Aspekt dabei: „Il Milione“ ist ohnehin kein nüchterner Reisebericht, sondern ein Buch, das außergewöhnliche und sensationelle Geschichten erzählt. Historiker streiten bis heute darüber, wie viel von dem, was Marco Polo angeblich gesehen hat, überhaupt stimmt oder stimmen kann.
Ein Grund dafür liegt auch in der Verbreitung seines Werkes. Bereits zu Polos Lebzeiten existierten zahlreiche Abschriften und Übersetzungen, die sich oft stark unterschieden. Je nach Intention des Kopisten wurden sie manches Mal angepasst, verändert oder ergänzt.
Seine Berichte prägten dennoch über Jahrhunderte das europäische Bild Asiens und sie fanden Eingang in die Kartographie – selbst nachdem Kolumbus Indien nicht auf dem Seeweg erreichen konnte. Wohl auch wegen ihrer Einzigartigkeit.
Doch zunächst stand nicht er als Person im Mittelpunkt, sondern die geografischen und kulturellen Informationen, die er lieferte.
Die Wende kam erst in der Renaissance, aber besonders im 19. und 20. Jahrhundert, als Marco Polo zunehmend als historische Figur gefeiert wurde. So soll zum Beispiel Alexander von Humboldt, selbst einer der berühmtesten Forschungsreisenden seiner Zeit, ihn den „größten Reisenden aller Zeiten“ genannt haben.
Insbesondere in Italien wurde Marco Polo zum Symbol nationalen Entdeckergeistes stilisiert. In diesem Kontext entstand die Vorstellung, er habe nicht nur Wissen über Asien mitgebracht, sondern auch konkrete Errungenschaften – darunter die Nudel. Wahrscheinlich führte eine Fehlinterpretation seiner Beschreibungen chinesischer Teigwaren dazu, dass ihm ihre „Einführung“ in Europa zugeschrieben wurde.
Hielt sich die Legende, weil sie eine einfache, einprägsame und auch eurozentristische Erklärung bot? Vielleicht. Tatsächlich waren Nudeln jedoch schon in der Antike im Mittelmeerraum bekannt.
Wer hat‘s erfunden? Oder nicht?

Fangen wir vorn an. Wenn du jetzt an eine dampfende Portion Spaghetti denkst, dann vergiss sie für einen Moment. Denn die Pasta, die wir heute kennen – mit Hartweizen, in präzise geschnittenen Formen und perfekt al dente – ist ein Produkt langer Entwicklungen.
Mittelalterliche Spaghetti?
Die Römer und ihre Lagana
Schon in der Antike kannte man im Römischen Reich ein Gericht namens laganum – ein früher Vorläufer der heutigen Lasagne. Es bestand aus dünnen Teigplatten (lagana) aus Mehl und Wasser, die geschichtet oder gebacken wurden.
Der römische Dichter Horaz (65–8 v. Chr.) erwähnt Laganum in seinen Schriften, Plinius der Ältere erwähnt Weizenteigwaren im 1. Jahrhundert n. Chr., und im römischen Kochbuch „De re coquinaria“ gibt es ebenfalls Hinweise auf Teigwaren.
Arabische Einflüsse: die wahren Nudelpioniere?
Der wohl wichtigste Hinweis darauf, dass Italien bereits vor Marco Polo mit Nudeln vertraut war, kommt aus Sizilien – und damit von den Arabern.
Während der islamischen Herrschaft über Sizilien (9.–11. Jahrhundert) wurden dort getrocknete Teigwaren eingeführt, die als itriyya bekannt waren. Arabische Händler brachten die Idee aus dem Nahen Osten und Nordafrika mit, wo man bereits Nudeln kannte, die in der Sonne getrocknet wurden – praktisch für lange Reisen.
Der arabische Geograph Al-Idrisi schrieb 1154 über eine blühende Nudelproduktion in Trabia, Sizilien, wo „lange, dünne Teigwaren in großen Mengen hergestellt und exportiert wurden“. 150 Jahre vor Marco Polos Rückkehr. Und 1279 – also ebenfalls bevor Marco Polo zurückkehrte – wird in Genua eine Kiste voller maccharoni in einem Nachlassverzeichnis erwähnt.
Ein archäologischer Fund in China
2005 entdeckten Forschende in China sie dann: die älteste bekannte Nudel der Welt.
In einer Ausgrabungsstätte in Lajia, einer rund 4000 Jahre alten Siedlung am Gelben Fluss, fanden sie eine Schale mit erstaunlich gut erhaltenen Nudeln – und zwar aus Hirse, nicht aus Weizen.
Diese Nudeln waren lang, dünn und hatten eine Form, die an Spaghetti erinnert. Sie waren luftdicht in einer umgestürzten Schale eingeschlossen, was sie über Jahrtausende konservierte.
Wo liegt der Ursprung der Nudel?
- Nudeln gab es in China schon vor sehr langer Zeit. Sie entwickelten sich nicht erst mit Weizenmehl, sondern begannen mit Hirse.
- Die chinesische Küche war schon früh auf Teigwaren spezialisiert. Anders als in Europa, wo Nudeln lange Zeit ein Luxusgut waren, gehörten sie in China zum Alltagsessen.
- Es gibt keine direkte Verbindung zur italienischen Pasta. Die Zutaten und Techniken unterscheiden sich zu stark.
China entwickelte in den folgenden Jahrtausenden eine beeindruckende Vielfalt an Nudeln. Anders als in Italien, wo Pasta oft aus Hartweizengrieß besteht und getrocknet wird, sind chinesische Nudeln oft frisch. Es gibt handgezogene Lamian, geschnittene Dao Xiao Mian und zahllose Varianten aus Weizen, Reis und sogar Bohnenstärke.
Allerdings heißt das nicht, dass Nudeln nur in China erfunden wurden.
Es ist durchaus wahrscheinlich, dass sie sich unabhängig voneinander an verschiedenen Orten entwickelt und parallel in mehreren Kulturen entstanden sind.
Warum? Weil die Grundzutaten – Getreide und Wasser – universell verfügbar waren. Ob Chinesen ihre Lamian-Nudeln herstellten, Araber ihre Itriyya oder Italiener ihre Makkaroni – überall fanden Menschen heraus, wie man Teig zu langen, dünnen Strängen formt und kocht.
Wie aber reist eine Nudel wirklich? Ist sie nur Handelsware – oder ein kulinarischer Weltenbummler? Genau das sehen wir uns in Teil II an.
A dopo! Bis gleich!
Hier geht’s’s zu Teil II: In 80 Tagen um die Welt …
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